Montag, 27. Dezember 2010

Bericht in der Allgemeinen Zeitung - 27.12.2010

Der Anker eines jeden Menschen
27.12.2010 - MANNHEIM/SIMMERTAL
Von Fabian Siegel

NEUERSCHEINUNG

Gebürtiger Simmertaler erzählt Geschichten aus seiner Kindheit
„Ich will nichts schreiben, wo auf jeder dritten Seite Blut fließt, sondern Bücher, bei denen sich die Leute beim Lesen genüsslich zurücklegen können“, sagt Roland Schunke. Diese Prämisse hat der gebürtige Simmertaler auch bei seinem Erstlings-werk verwendet - „Sonnenuntergang oder die Suche nach Heimat“ handelt vor allem von seinen Kindheitserinnerungen im beschaulichen Dörfchen in Kirn-Land.
„Ich verstehe Heimat nicht im Sinne von Almenrauschen und Bergidylle“, erklärt der Autor. Stattdessen sei Heimat für ihn etwas, was einen immer begleite, einen Anker den jeder Mensch tief in sich tragen müsse. Ein solches Gefühl gehe leider in der heutigen Rastlosigkeit viel zu schnell verloren.
So bettet Schunke seine Erzählungen in die Beschreibung seiner Beziehung zu einem alten Mann, der für ihn als Großvaterersatz diente und bei dem er große Teile seiner Kindheit verbracht hat. „Die Zufriedenheit dieses alten Mannes, der nach seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg Simmertal nie wieder verlassen hat und trotzdem glücklich war, stehen für mich sinnbildlich für Heimat.“
Selber hielt es Roland Schunke, Jahrgang 1953, nicht lange in Simmertal. „Neben der Literatur galt meine Liebe schon immer der Musik“, berichtet der 57-Jährige. Mit Gruppen wie den „Starlights“ spielte er in der Region, bevor er 1973 Simmertal end-gültig den Rücken kehrte. Sechs Jahre lang verdiente Roland Schunke seine Brötchen als Berufsmusiker, bevor er die Fachhochschule als Diplom-Rechtspfleger abschloss und seitdem in der Justiz in Baden-Württemberg tätig ist, seit neun Jahren als Verwaltungsleiter am Amtsgericht Mannheim.
Dennoch hat Roland Schunke aus Simmertal schon erste Reaktionen auf sein Buch bekommen. „Immer wieder sprechen mich Leute an, die sich an die Geschichten, die ich erzähle, selbst noch erinnern können“, erzählt Schunke.

An seinem zweiten Buch arbeitet der Autor bereits: „Wieder wird es um Heimat gehen, aber auch um die Liebe. Ich versuche diese beiden zentralen Themen im Leben eines Menschen miteinander zu verbinden.“ Als Bezugsperson dient diesmal allerdings nicht der Großvaterersatz. „Als ich vor kurzem, nach vielen Jahren, meinen alten Teddybär wiedergefunden habe, habe ich mich gefragt, was er mir wohl über meine Kindheit erzählen könnte. So ist die Idee für den neuen Erzählband gekommen“, blickt Schunke zurück.
Bei seinen Büchern geht es Roland Schunke nicht um den Profit, betont er. „Zu glauben, dass man davon leben könnte, wäre utopisch.“ Ihm ginge es darum, dass die Leute seine Arbeiten lesen - und, dass er selbst Spaß an dem hat, was er tut.

„Deswegen mache ich auch nur noch die Musik, die mir Spaß macht: Kontrabass in meiner Jazz- und Swing-Formation“, fügt er hinzu. Auf einen Termin freut sich Roland Schunke dabei schon besonders: Am 26. Juli 2011 kehrt er nach vielen Jahren wieder nach Kirn zurück, um dort im Gesellschaftshaus aufzutreten.

Mittwoch, 15. Dezember 2010

Weihnachten

Weihnachten (Ein Pfälzer Dialog)

„Unn, fräst du dich aach uff Weinachte?“ „Herr mer uff. Wann ich die rote Kappe schun im November sehe muss, uff em Weihnachtsmarkt. Kannst du mir sache, was das mit Weihnachte zu due hot, im November?“ „Des Johr fällt Weihnachte uginstig for die Geschäftsleit, de 24. is doch e Freitag. Do bleibt wenig Zeit zum Vekaafe.“ „Du host mei Frog net vestanne. Ich will wisse, was das mit Weihnachte se due hot, wenn midde im November die Leit mit de rote Kappe rumlaafe.“ „Ei, die honn halt ihr Spass debei.“ „Seit wann ist Weihnachte en Spass? Unn warum misse die dann ach noch Glühwein saufe bis se umfalle. Is das ach Spass? Weihnachtsspass?“ „Loss doch den Leit ihr Fräd.“ „Ich honn immer gedaacht, es geht um des Kind in der Grippe, das wo im Stall in Bethlehem uff die Welt komme is, das käner gewollt hat, unn dem sei Eltern, Maria und Josef, gefrore unn gehungert honn.“ „Das is doch schun üwer 2000 Johr serick.“ „Aah jo, du meinst die rote Kappe ware domols noch net uff dere Welt unn kenne des net wisse? Allah gut, ma müst die Froge vun de Pisastudio mol durchforste unn die Kinner noch em Lukas-Evangelium froge. Mer solls net klawe, was du fern Mist babbele kannst.“ „Jetzt sei doch net so sauer uff mich. Sa emol, host du schun die Geschenke?“ „Her ma uff. Jedes Johr hästs, mir schenke uns nix. Unn des NIX ist mittlerweile fuffzig Euro deier.“ „Wie das?“ Irgendwann hon die Annere gesagt, Nix wer doch nix am Fest der Liebe.“ „Das is awer en scheene Betrag, aber do krieht jeder wenigstens ebbes im gleiche Wert.“ „Babbel du aach nur weiter dummes Zeich. Es geht jo noch weiter.“ „Was mämsch en du?“ „Damit ma nix unnötiges schenke dut, säht jeder was er will und dann wird ausgemacht, wer was wem kaafe dut.“ „Das is awer praktisch?“ „Praktisch?“ „Ei für die Geschäftsleit.“ „Wie kummsch du dann jetzt do druff?“ „Ei iwwerleg doch emol, hähä, dann wird nix mer umgetauscht.“ „Du Praktiker. Awer sag mir emol, was hot das mit schenke zu dun, wenn ma vorher schun wääs , was im Pächche drin ist?“ „Do host du schunn Rächt. E Iwwerraschung kanns jo käne me gewwe.“ „Äwe. Do nimmt de Baba e Päckche in die Hand, schnubbert dran und schiddeld’s und froogt mit große Auge in die Runde: „Ja, was wird denn da wohl drin sein?“ „Ehrlich?“ „Du Doofkapp, der wäas doch was er krieht, er macht doch nur so. Dann reist er’s uff und fräät sich so, als wenn’s di dollste Überraschung wär.“ „Ei das ist doch scheen.“ „Scheen ach, awer bleed unn veschmitzt. Und das an Weihnachte im Angesichts des Christkinds.“ „Des derfste net so eng sehe.“ „Ich wäs, du denkst galaktisch, äh global.“ „Gehst du an Weinachte in die Kerch?“ „ICH, nie mehr geh ich an Weihnachte in die Kerch?“ „Ei warum dann net?“ „ Das kann ich dir saan. Es ganze Johr brauch ich des Gotteshaus net und wann ich emol noi will ist voll. Letzt Johr honn ich kein Sitzplatz mer krieht. Unn stell der mol vor, die honn aangestand, als gäbs was umsunscht se drinke.“ „Ei, das is doch jeed Johr so.“ „Was?“ „Ei, dass die Kerch do voll is.“ „Ausgerechnet wenn ich mol nei will. “ „Sa emol, host du schun dei Bämche.“ „Her mer uff. Es letzte Johr hot mir gereicht. Der Baam muss schun älder gewese sinn, der hot schunn drei Tach vor Weihnachte die Nodele velore. Dann hott die Katz gemäänt, sie mist mit de Kuggele spiele und kladeradatsch, der ganze Baam is umgefalle. Bis ich die runnergefallene Nodele aus dem Flokatiteppich drauß hat. Ich kann der saan: Vier Flache Bier. Unn beim Abfracke is e Lamettafahn in die Steckdos. Alles dunkel. Unn die nei Lichterkett honn ich so veworschtelt, dass ich se des Johr mit de Zang ausenanner schneide miest.“ „Mir krie ach kän Baam des Johr.“ „Warum net?“ „Ach wege dene Nodele und die Kinn sinn jo aach schunn aus em Haus.“ „Alla dann, ich muss.“ Wo machschen hie?“ „Ich kaaf e Nordmanntann.“ „Du bischt doch äläh.“ „Unn? Ich setz mei rote Kapp uff, du die verworschtelte Lambe schee um de Baam lege, es Lametta vom letzte Mol und die vun de Katz vebollerte Kugele nohhänge, zieh mei selbgebatiktes Nikolaushemd aan, schalts Radio an und trink e paar Flasche Nikolausbier. Ubd dann solsch du mol mei Hosianna here.“ „Dann Frohe Weihnachte.“ Dir ach.“

Mittwoch, 8. Dezember 2010

Doch

Wasser fluten Felder,
Stürme roden Wälder,
Herzen keiner biegt,
wenn die Liebe sie umgibt.

Montag, 6. September 2010

Glück

Es liegt vor mir, ich fühle, ich kann‘s fassen,
des Lebens Glück und Freud‘.
Werd‘ im Bestreben nie mehr lassen,
gelingt es morgen oder heut‘.

In unseres Lebens Spiel
stets nur der Weg begangen wird,
denn kein Gedanke an ein Ziel
zu Zweisamkeit und Liebe führt.

Dem Schicksal möchte ich heut‘ danken,
dass unsre Wege sich verbinden,
mög’s unsere Seelen um uns ranken
und ewig uns in Lieb‘ verwinden.

Kein Glück wird schöner je empfunden
als das, das kam, aus Himmels Sphären
drum lass uns nicht die Tief‘ erkunden,
wenn Engel unsre Liebe nähren.

Donnerstag, 26. August 2010

Einmal noch

Einmal noch,
nur einmal noch,
möchte ich geben,
was meine Seele beglückt.


Einmal noch,
nur einmal noch
möcht’ ich erleben,
dass mein Herz entrückt.


Einmal noch,
nur einmal noch,
möchte ich den Pfeil
der Liebe empfangen
durch Dich.

Montag, 9. August 2010

Vernunft?

Gar trügerisch rät einem Menschen die Vernunft, ohne auf die Stimme des Herzens zu hören, Lebensweise und Lebensverhältnisse zu ändern. Der Ratio sollte in vielen Lebensbereichen unbedingt gefolgt werden, aber in Angelegenheiten der Seele sollte der Mensch seiner gefühlten inneren Befindlichkeit folgen. Vernunft vermag vielleicht ein mehr oder weniger sorgenfreies Leben garantieren, jedoch ist sie kein Garant für Glück oder innere Zufriedenheit.

Nun, er lernt, aus dem, was war, manches jedoch vermag nur das Schicksal zu fügen und alles Wägen, Leiten und Denken entzieht sich seinem Einfluss.

Sie

Als sie meinem Käfig entwich, half kein suchen.
Später hörte ich, nur wer nicht sucht, findet. Gut.
Kürzlich erblickte ich sie am Horizont,
voller Freude winkte ich ihr zu.
Doch als sie näher kam, errichtete ich einen Zaun.

Hoffnung?

Höre in mich hinein - NICHTS!
Sehe in mich hinein - NICHTS!
Fühle in mich hinein - NICHTS!

Hoffnung? JA, aber für WEN?

Freitag, 25. Juni 2010

Zum Alleinsein

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei, sagt Gott.
(1. Mose 2,18-19)

Aber: Nur ALLEIN, kann der Mensch SEIN.

Muss ich bedauern

Muss ich bedauern, dass ich bin, wie ich bin,
und nicht, wie andere mich gerne hätten?

Muss ich bedauern, mein Leben und meinen Sinn in diesem zu hinterfragen
und nicht Quell positiver Freude zu sein?

Muss ich bedauern, dass meine Stimmungen schwanken
und für jedermann unerträglich sein können?

Ich bedauere, dass mir Anpassung nicht gelingt,
Ich bedauere, ein Getriebener zu sein.

Muss ich um Verzeihung bitten, Abbitte leisten, Geld in den Klingelbeutel werfen,
Buße tun oder nach Canossa wandern?

Muss ich mich der Waage des Lebens stellen, die mich vielleicht für zu leicht befindet ?
Und wenn dem so wäre, was sollte ich tun?

Ich bemühe mich, genügt das?
Was bleibt? Aushalten? Mich aushalten. Solange es erträglich ist.

Wenn nicht?

Dienstag, 22. Juni 2010

Seele

Wenn die Seele weint, friert das Herz.

Freitag, 11. Juni 2010

Merkelismus

Allen „Ismen“, so riet mir einer meiner frühen Lehrer, solle der Mensch, der sich das Gefühl eines billig und gerecht denkenden Wesens zu erhalten gedenke, mit Vorsicht begegnen. Einerseits würden oft einseitige Pseudowahrheiten mit Unfehlbarkeitsgarantie in den geistigen Raum gestellt und andererseits würden sich stets fanatische Apostel zur allzeitigen und militanten Verteidigung einfinden, alles in allem meinte er, der Mensch brauche keine Ismen. Womit bereits zwei Begriffe genannt seien, die keiner weiteren Erläuterung bedürfen: Dogmatismus, Fanatismus. Gleichfalls anfügen, weil in den Zusammenhang passend sollte ich hier Marxismus, Leninismus, Kommunismus, Liberalismus, Kapitalismus, Faschismus, Islamismus, Katholizismus, Protestantismus und Atheismus. Der Ergänzung halber, einen Anspruch auf Vollständigkeit erlaube ich mir nicht aufzeigen zu können, füge ich, die Gesamtheit der Menschheit jedoch weniger berührende Ismen an. Kubismus, Dadaismus, Expressionismus, Surrealismus, Symbolismus. Ich erspare Ihnen und mir, ich sehe mich auch nicht tiefsinniger Erläuterungen fähig, allumfassendes Wissen vorzutäuschen. Womit wir wieder, es ist doch schön, wie sich alles fügt, oder?, bei der Titelzeile angelangt wären, beim Merkelismus. In der Sprache der ‚Birne‘ würde ein Pfälzer Obstbauer seinen Nachbarn etwa wie folgt aushorchen: „Hoste schunn geheert, was sAngela gesaat hot?“ Das Wort s Angela wird etwa wie folgt ausgesprochen: Das s bedeutet es oder auch das. Niemand würde auf die Idee kommen, ‚die Angela‘ zu sagen, also in der Pfalz oder auch im Saarland, weil dort Frauen immer sächlichen Geschlechts zu sein scheinen, Sachen also. Aber das wollen wir mal als nicht geschrieben markieren, sonst sitzt mir ein weiterer Ismus näm-lich der feminine im Nacken. Zurück zur Aussprache. Dieses s, das es bedeutet, wird mit einem ganz kurzen, gestoßenen, vorangestellten e, wie beim Imperativ von ‚essen‘ also ess, aber kürzer und einer weniger starken Betonung auf dem zweiten s vorgetra-gen. Alles verstanden? Kleine Übung: s’räänt (es regnet) oder s’kimmt / s’kütt (es kommt). Des Weiteren sei angefügt, dass das g in Angela nicht wie ein g bei Gustav sondern wie ein SCH bei Schwachsinn gesprochen wird. S’Angela lauten nunmehr im Zusammenhang: Ess Anschelaaa.
Ich bin Ihnen noch die Antwort des Nachbarn schuldig, habe ich mich ja glatt verritten in der Urlautforschung. Dieser meinte nämlich in seinem Skeptizismus: „Nää.“ Und der Wissende erklärte sodann, ich muss dem Pfälzer jetzt, ob er will oder nicht, einen hochdeutschen Satz in den Mund legen, allein schon wegen des Authentizismus, was die Hüterin des Merkelismus so vor kurzem treffender nicht hätte formulieren können. „Solide Finanzen sind jetzt die beste Krisenprävention, die wir machen können.“ Gut, ich gebe zu, ein Pfälzer hätte dem letzten Halbsatz vielleicht, ich sage bewusst vielleicht, einen bodenständigeren Flair gegeben: „die wo mir mache kenne.“

Der weitere aufschlussreiche Dialog über die Wirtschaftskrise und den untauglichen Versuch der Merkelisten soll nicht unterschlagen werden.

„Unn was mäant es do domit?“
„Das ma net mehr ausgibt, als ma einimmt.“
„Is das was Neies?“
„Nää.“
„Warum säat se das dann?“
„Dass mir’s wisse un spare.“
„Ei mir spare doch schunn immer.“
„Awer das wäs doch die net.“
„Ah. – Misse die annere ach spare.“
„Wen mäanste dann?“
„Ei, di die mee han als mir?“
„Die Reiche?“
„Jo, die.“
„Dass kannste von dene net velange.“
„Och?“
„Die honn das net gelernt.“
„Was?“
„Ei s’spare.“
„Kenne di das net lerne?“
„Geh fort. Dass lerne di nie.“
„Jo dann.- Awer sa emol, warum hot die Regierung es letzte Johr so viel zum Fenster enaus geschmisse vor die Banke?“
„Ich honn ders doch gesagt, weil die s’spare net gelernt hon.“
„Un jetzt dirfe mir das bezahle?“
„Dass war doch schunn immer so, oder?“
„Ei jo. Et is nur gut, dass mir noch was anneres gelernt honn.“
„Was dann?“
„Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.“
„Das müst ma der Hüterin des Ferkelismus, äh Merkelismus doch amol san.“
„Du Kapp, die gehert doch ach zu dene, die’s net lerne.“

Donnerstag, 10. Juni 2010

Nichts

Wir besitzen nichts, wir haben nichts außer dem Nichts,
sitzen im Nichts, steigen auf ins Nichts,
bis wir eingehen ins Nichts und ein Teil von ihm werden.

Glück

Ein Leben lang suche ich das Glück,
aber ich habe mich verlaufen.

Montag, 7. Juni 2010

Zeit und andere Abgewöhntheiten

Freitag-Nachmittag. Es ist spät. Heute Morgen war Montag. Was lag dazwischen? Nun. Ich spreche mit einer Kollegin, die auch nicht weiß, ob es sich lohnt, den Tag umzuschlagen.
Ich habe es mir abgewöhnt, aus dem Büro zu stürmen und dem Leben hinterher zu hetzen. Ich hole mich nicht ein. Nie. Auf dem Weg zur Straßenbahn, ich nehme mir Zeit dafür, eilen mit Handy am Ohr Planende an mir vorbei. „Bin um…“, „Dann können wir…“, „Heute Abend….“, „Schaffe ich grad…“, „Hast du die Karten…“, Vor dem Eingang…“, „Zehn Minuten später…“, „Ohne uns fangen..“. Alle überholen mich, sollen sie. Meine Ruhe überholen sie nicht, die gehört mir. Sollen sie doch rennen. Sie glauben eben noch. Dumm. Ich laufe auch nicht mehr, wenn es durch‘s Laufen vielleicht noch reichen würde. Die Erfahrung lehrte mich, dass das Laufen keinen Erfolg zeitigt. Hoher Puls und Schweiß und Rücklichter. Ich gönne keinem Fahrer diesen Triumph. Türen zu, grinsen. Manchmal Rechtfertigung durch einen Hinweis auf den Fahrplan, Ordnung, Zucht nur in Gedanken. Nein, ich laufe nicht. Hin und wieder schlendere ich an der stehenden Straßenbahn, meiner, äußerlich unbeteiligt, vorbei. Dann greife ich in die unvermeidliche Ablaufplanung ein. Kurz vor dem Verschließen der Türen drücke ich und steige siegreich ein. Innerlich zeige ich den gestreckten Mittelfinger. Das turnt an. Meistens stehe ich. Ich teste, ob mir jemand einen Platz anbietet. Meistens habe ich Glück. Ich schreibe dies meinem jugendlichen Aussehen zu, weiß aber, dass das Platzmachen für Ältere aus der Mode gekommen ist.
Ich beobachte gern. Frau mit Kind und Kleinkind. Es wirft seinen Schnuller zur Erde. Ein junges Mädchen streitet sich mit ihrem Freund. Mit wem sonst. Ein alter Mann, also einer der älter, viel älter ist als ich, regt sich kopfschüttelnd auf. Eine Kopftuchträgerin. Ein junger Mann kratzt sich im Genitalbereich, zwei Mädchen kichern. Eine Andere erzählt einer Freundin von ihrem Termin beim Frauenarzt. So genau wollte ich das nicht wissen.
Ich stehe auch noch an meiner Haltestelle. Ich lasse alle vor mir aussteigen. Sie hetzen mir den roten Teppich aus, über den ich schreite. Zwei junge Halb- oder Ganzstarke rennen bei Rot über die Ampel. Die Frau von vorhin packt Kindergartenkenntnisse aus. Rot – stehen, grün – gehen. Schau nach links, rechts, geradeaus, dann kommst du immer gut nach Haus. Die Kleine, die große Kleine, merkt unsicher an: Das gildet aber nicht bei ROT, oder? Ich habe es mir schon lange abgewöhnt, bei Rot über eine Ampel zu gehen. Ich komme noch früh genug, an den Ort, an dem ich schlafe. Es liegt mir nichts daran, schnell dort hinzukommen. Warum auch. Es wartet niemand. Tiere sind nicht erlaubt.
Ich habe es mir abgewöhnt, zu warten auf die vor mir liegende Zeit, die auch nur im Kreis läuft. Es gibt kein „Wenn NICHT, dann NEIN, sonst JA“.
Ich sagte es schon, ich hole mich nicht ein und nicht die Zeit. Auch nicht, wenn ich rückwärts laufe.
Ich habe es mir abgewöhnt, abends etwas zu wünschen oder zu wollen, weil Montag Freitag ist.

Dienstag, 11. Mai 2010

Sonntag

Glocken hör’ ich fern,
ja ich würde gern
dass jener Geist mich baut.

Doch ach, es sind nur Glocken.

Sonntag, 2. Mai 2010

Warum 02

Warum?
Was?
Das.
ACH!

Warum 01

Warum lebst du?
Weiß nicht.
Liebst du?
Glaube schon.
Also

Freitag, 30. April 2010

So wird es sein

Ich liege auf dem Rücken, flach, tief,
die Arme neben meinem Kopf, leicht gebeugt,
den Kopf von einem Kissen gestützt, nach links geneigt.
Meine Augen liegen hinten.

Ich liebe diese Bewegungslosigkeit, nur die Tauben gurren. Ruhe.
Bewegungslos, ohne Bewegung, los.

Ich liege tiefer, auf einem Bett aus Sand, noch tiefer, sandloser.
Nichts bewegt sich, auch die Augen nicht. Könnte ich sie öffnen?
Könnte ich. Will nicht.

Ich liebe diese Starre, tief, im Sand, unter mir.

So muss es sein. Tief liegen, erstarren, nichts wünschen, nichts wollen.

In mir schaukelt ein Kind. Kräftige Schwünge.

Ruhe, tiefe Ruhe, Starre, bewegungslose Starre.

So muss es sein.
Tief, im Sand, ganz tief, unter mir, versunken.

Die Tauben gurren, vermischen sich mit den Stimmen der Straße, dem Lärm der
Motoren und der Musik in mir. Schade.
So wird es sein. Hoffentlich.

Donnerstag, 29. April 2010

Namenlos

ICH HATTE KEINE,
DU HATTEST EINE,
DU LIEBTEST.

Hoffnung

Wer Glück hat,
dessen Liebe wird ertragen.

Wer viel Glück hat,
dessen Liebe wird geduldet.

Wer mit den Göttern ist,
dessen Liebe wird erwidert.

Donnerstag, 8. April 2010

Liebe

Geist erschaffe,
biete Hoffnung,
denke bieder,
schwebe.

Seele strebe,
spende Freiheit,
knie nieder,
gebe.

Herz verlange,
zeige Sehnsucht,
brenne wieder,
lebe.

Montag, 22. März 2010

In einem gesunden Körper ...

Zu meinen Schulzeiten haben mich die adretten und braun gebrannten Besserwisser, die sich auf irgendwelchen Alpenpfaden wandern gestählt hatten, mit dem Spruch Mens sana in corpore sano wöchentlich belästigt. Nur in einem gesunden Körper sei ein gesunder Geist. Schade nur, dass sie ihre Weisheit so aus dem Zusammenhang rissen. Richtig heißt es nämlich: Orandum est, ut sit mens sana in corpore sana. Übersetzt: Beten sollte man darum, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist sei. Marathonläufer und Extremsportler merkt auf: Gehirn und Muskeln wachsen nicht zwangsläufig proportional.
Allerdings hat der römische Dichter Juvenal durchaus recht. Zur Zeit huste und schnupfe ich, was den Teufeln Angina und Bronchitis mit aller Inbrunst geopfert werden kann. Die Augen brennen, der Kopf hämmert, der Puls rast und das Gehirn überschlägt sich.
Da gibt es nur eines, Erinnerung an Schiller. Im Wallenstein heißt es: Es ist der Geist, der sich den Körper baut.
Also dann!

Donnerstag, 11. März 2010

Eine Sarrazinade

Was hat er nicht schon alles von sich gegeben, der allseits geliebte Bundesbankert.

Billigschrippen und Kartoffelsalt für Arbeitslose;
Kein Deutsch, kein Geld;
Eine große Zahl von Arabern und Türken hat keine produktive Funktion außer für den Obst-und Gemüsehandel und produziert kleine Kopftuchmädchen;
Hartz IV – Empfänger haben es gerne warm;
Studenten sind Arschlöcher;
Beamte sind bleich und übelriechend;
Kinder kriegen kann jeder, der damit fertig wird;

Seine neueste Hirnblähung:

Hausaufgaben nicht gemacht, Kindergeld um 50% kürzen.

Mir fallen in diesem Zusammenhang einige Meldungen zur Hausaufgabenhilfe ein, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Es sollen Willi Stächele am 15.09.2008, der Umweltminister am 17.09.2009, der Gesetzgeber am 10.06.2009, Roland Koch am 30.01.2010, Dieter Zetsche am 27.02.2010 und Olaf Scholz am 29.07.2009 ihre Hausaufgaben machen.
(Zufallsrecherche in Tageszeitungen)

Die Hausaufgaben der Kinder müssen nach Herrn Sarrazin vor Beginn des Unterrichts kontrolliert werden. Und wenn sie sie nicht gemacht haben, werden die Eltern zitiert und das Kindergeld gekürzt.

Unseren Politikern sollte man etwas mehr Zeit gönnen, mein Vorschlag wäre eine monatliche Kontrolle. Und wenn sie sie nicht gemacht haben, die Hausaufgaben, dann wird der Parlamentspräsident zitiert und die Diäten gekürzt.

„Was meinen Sie, was auf einmal die Hausaufgaben gemacht werden.“

Mittwoch, 24. Februar 2010

Auf sechzig zu

„Morgens stehe ich auf, wider besseres Wissen, und mit zugenähtem Mund.“ schreibt Martin Walser in seiner Erzählung ‚Mein Jenseits’. Er hat den Abschnitt mit der Sechs vor dem Komma bereits hinter sich gelassen. Ich frage mich, wie er das geschafft hat, wo es mir doch so schwer fällt, jeden neuen Jahresring unter meine Haut zu schieben. Freuen soll ich mich, höre ich tröstende Mitmenschen, freuen soll ich mich, dass ich Geburtstag habe. Wie kann ich das und warum sollte ich? Das Älterwerden an sich ist schon wenig erquicklich, stellen sich täglich Neuerungen ein, die wenig mit Lustgewinn in Verbindung gebracht werden können. Das linke Knie schmerzt heute mal wieder, nur wenn ich Treppen steige, es muss der Außenmeniskus sein, Sportlerschicksal. Im linken Fußballen glaube ich eine Nadel zu spüren, wenn ich auftrete, der einseitige Schlendergang, so als hüpfte ein Kind an der Bordsteinkante mit einem Bein auf der Kante und mit einem Bein auf der Straße, wirkt quälend. Ich höre das Getuschel auf dem Gang, laut genug um mitzubekommen, dass man mich wohlwollend mitleidsvoll den Armen nennt. In der Straßenbahn bot mir eine junge Frau ihren Platz an. Vor ein paar Jahren wollte ich mich erschießen, sollte mir diese Wohlgefälligkeit von jemand Jüngerem angeboten werden. Der Mensch überlebt alles. Der übermäßige nächtliche Harndrang, am Tag zeigt sich dieser auch, nur es wird nicht so störend empfunden, verhindert erholsamen Schlaf. Wenn dann noch eine Schlafapnoe oder ein Upper Air Way Syndrom hinzukommen, die die Sauerstoffzufuhr erheblich einschränken, braucht sich niemand zu wundern, wenn der Tag zu lang wird, weil die Nacht zu kurz. Zum halbwegs gesunden Schlaf wird ein Beatmungsgerät angeschlossen, das einen aussehen lassen, als würde man an einem Trockentauchkurs teilnehmen und das alle Uneingeweihten die Arbeit eines Föns vermuten lässt. Mit meinem PSA Wert stehe ich auf Du, so oft wird er bestimmt, um Prostataleiden auszuschließen. Ich fühle einen Stein in der Magengrube, ohne einen solchen verschluckt zu haben. Ein Fett, eine Hülsenfrucht, vielleicht eine Kohlsorte reizen, meine Hinweise darauf, dass ich Einfaches essen muss, Pellkartoffeln, trockene Nudeln mit Butter, ernten unverständige Blicke. Mehr Rücksicht, bitte. Apropos Stein: Die Nieren sollten nicht unerwähnt bleiben. Die Glieder meiner Finger schmerzen. Arthrose. Das ist nicht weiter schlimm, man braucht die Hände ja nur selten. Haben Sie auch Wundsalbe in ihrer Hausapotheke, für in die Nase und hinter das Ohr? Warum sich dort Ablagerungen bilden, weiß der Himmel. So sagt man. Ich bin sicher, der weiß das nicht. Auch nicht, warum nur eine Nasenbahn und nur ein Ohr betroffen sind. Was ich nicht habe, genetisch bedingt, ich habe keine Glatze. Aber wie früher ist das auch nicht mehr. Grau und dünn. Den Sitzapparat möchte ich aus Geschmacksgründen nicht näher unter die Lupe nehmen, aber auch hierfür gibt es Salben. Und über die Sache mit dem Zucker reden wir nicht, das würde den Rahmen sprengen, in dem sich die Industrie mit allerlei Hilfsmitteln, Pillen und Pülverchen breit macht. Vor nicht allzu langer Zeit beabsichtigte ich meinem Körper etwas Gutes zu tun. In einer Apotheke bat ich um ein bekanntes Vitamin-Präparat. Als die hinter dem Tresen stehende Mitarbeiterin, eine Junge, mir vor allen anderen Kunden mitteilte, dass dieses Produkt auch für die Generation 50-plus angeboten würde, fühlte ich mich nackt und schutzlos. Asche auf mein Haupt. Gesichter und Namen, dazugehörige Namen. Fehlanzeige. Die Hirnhälften für Bild- und Begriffserkennung arbeiten nicht mehr deckungsgleich. Ich merke das, wenn ich einen alten Bekannten treffe. ‚Hallo, na wie geht’s, alles in Ordnung?’ Ich habe mich daran gewöhnt, dass man mir, wenn ich höflich nachfrage, ‚Entschuldige, aber ich habe deinen Namen gerade nicht parat, er liegt mir auf der Zunge.’, zulächelt und beruhigend feststellt: ‚So hat das bei mir auch angefangen.’ Danke. Und wann hört das wieder auf? Machen Sie auch Kreuzworträtsel? Dann wissen Sie wovon ich spreche. An manchen Tagen starre ich schwarze Löcher in die Antwortkästchen, ich lasse vergeblich Hirnschmalz fließen und werfe Zeitung und Bleistift in die nächst beste Ecke. Die Brille vergaß ich, sie fliegt mit. Ich sehe noch ganz gut, aber meine Arme gingen beim letzten Warmduschen ein. Ich würde ja den Kopf in den Sand stecken und abwarten. Aber dazu müsste ich mit den Händen ein Loch graben, was wegen der Arthrose schwerlich zu bewerkstelligen sein wird. Nur, weil mir nichts anderes übrig bleibt, sehe ich mit festem Blick meinem Schicksal entgegen und tröste mich damit, dass es Menschen geben soll, die bis achtzig und mehr durchgehalten haben, auch wenn ich mir keine Vorstellungen davon machen möchte, welch weitere Lebensgeiseln mich überfallen werden.

Samstag, 20. Februar 2010

Luftschloss

Gestern las ich in meinem Horoskop, ich hätte mir ein Luftschloss aufgebaut, das mit der Realität nicht standhalten könne. Ich solle versuchen meine Pläne zu än-dern, dass mir eine Enttäuschung erspart und alle Chancen auf ein gutes Voran-kommen bestehen bliebe. Als vernünftig Denkender scherte ich mich bisher nicht um die täglich erscheinenden astrologischen Hilfestellungen meiner Tageszeitung, blieb auch an keinem Freitag, der auf einen 13. im Kalender fiel, im Bett und umsteuerte Gerüste nur, wenn größere Schmutzentwicklung durch herab fallenden Staub meine Kleidung hätte verunreinigen können. Die Warnung vor einem der Realität nicht standhaltenden Luftschloss warf meine bisherige Verhaltsweise minutenlang über Bord. Angestrengt grübelte ich nach den von mir zuletzt begonnenen Plänen. Ich hatte mir vorgenommen, vermehrt Sport zu treiben, aber an den Gewinn der Weltmeisterschaft dachte ich dabei nicht. Ich wollte ein Buch schreiben und veröffentlichen. Ich habe es geschrieben und veröffentlicht, jedoch sieht mein weiterer Plan nicht vor, den Nobelpreis entgegen zu nehmen. Dem Lexikon entnehme ich, dass man unter einem Luftschloss einen unrealistischen Zustand oder einen Gegenstand zu verstehen habe, den man sich ersehnt, herbei wünscht oder erträumt, der aber außer in der Vorstellung noch keine Substanz hat, ein Hirngespinst oder ein Fantasiegebilde. Unrealistische Pläne - Fehlanzeige. Die klugen Köpfe in WIKIPEDIA erwähnen Sehnsüchte, Wünsche und Träume. Ach, ein weites Feld. Wünschen wir uns nicht alle seit wir denken können alles und jedes? Einen Teddy, LEGO - Bausteine, eine Holzeisenbahn? Wollten wir nicht alle Kapitän, Pilot, Lokführer, Polizist werden? Die weiblichen Leserinnen mögen mir verzeihen, aber mir fehlen die erforderlichen Erfahrungsschätze. Ich werde mich aber bemühen, meine Wissenslücke zu schließen. Ich wünschte mir als Zehnjähriger einen Roller, um mit meiner Mutter, auf dem Sozius sitzend, die täglichen Einkäufe zu erledigen. Mit sechzehn Jahren glaubte ich an eine musikalische Karriere als Liedermacher. Der Anfang war vielversprechend. Aufnah-men im Rundfunk und wenig später zwei Titel im dritten Programm. Luftschloss? Manchmal ärgere ich mich darüber, mit wie wenig Können manche Gruppen erfolg-reich sind. Und doch wundert es mich aber nicht: Jedem Publikum die ihm gemäße Musik. Ich weiß aber auch, dass es Bessere gibt. Meinen Berufswunsch konnte ich nach einigen Umwegen erfüllen. Im Nachhinein frage ich mich allerdings, ob es nicht besser gewesen wäre, diesen nicht gewünscht zu haben. Ich begnüge mich damit, nicht alles haben zu können und bin zufrieden. Es lebt sich gut. Träume? Was habe ich nicht alles geträumt. Olympiasieger, Tour de France Gewinner, Held, wofür weiß ich nicht mehr, Indianerhäuptling, einer, der die Weißen besiegt, Musiker auf Konzerttournee, Vertreter Deutschlands bei der Eurovision, doch Nobelpreisträger, egal für was, Hauptsache der König drückt mir die Hand. Und. Und. Und. Nach einem ereignisreichen Leben träume ich wenig. Manches hätte ich mir noch nicht einmal im Traum vorstellen können. Einzelheiten erspare ich mir. Bescheidenheit. Träume und Wünsche habe ich keine mehr. Mein Haus, mein Boot, mein Pferd, mein Yacht? Urlaub? Neues Auto? Fehlanzeige. Nicht ganz. Ich träume davon, meine Gedanken zu formulieren und anderen Menschen Freude bereiten. Ich möchte so schreiben, dass der Leser meiner Zeilen sich beruhigt an meine Schulter anlehnt. Ob es mir gelingt? Der Inhalt des Horoskops hätte sich damit als unhaltbar erwiesen. LUFTSCHLOSS? Letztlich bleibt nur die Sehnsucht nach dem Besonderen, dem das Leben Erfüllenden: Zuneigung, Gefühl, Liebe. Hoffnung? Luftschloss?

Dienstag, 16. Februar 2010

DA CAPO

„Wir fangen noch einmal von vorne an!“, von Personen in Stein gemeißelt, die sich ihres Ziels sicher sind. Vielleicht riefen sich dies mehrere Musiker zu, denen ein Liedanfang besonders gut gefallen hat oder die übereingekommen waren, eine bestimmte Partie wegen ungenügender Interpretation wiederholt zu üben. Die passende musikalische Bezeichnung DA CAPO bedeutet ja, ein Musikstück erneut von vorne zu beginnen. Im Zusammenhang mit AL FINE, also DA CAPO AL FINE, spielt man ein Stück von vorne bis zum Schluss. Der Ausdruck DA CAPO AL CODA bedeutet, dass ein Musikstück von Anfang an wiederholt wird und an einer entsprechend gekennzeichneten Stelle in das als CODA bezeichnete Nachspiel, also auch bis zum Schluss geführt wird. In der Musikersprache nennt man dies ‚Kopf - Kopf’ und alle wissen, wie sie weiter spielen sollen. Da es auf Bühnen des Öfteren sehr laut zu geht, die mündliche Anweisung DA CAPO während einer Aufführung leicht überhört wird und die Schlüsse im Chaos enden, hat sich in eingespielten Formationen die Zeichensprache durchgesetzt. Für DA CAPO oder Kopf-Kopf hebt der Leader die rechte oder die linke Hand über seinen Kopf, streckt den Zeigefinger aus und tippt mit der Spitze des Finger auf seine Kopfmitte, um damit klar die Anweisung Kopf-Kopf auszudrücken. Die Zeichensprache wird auch verwendet, um Tonarten, in die moduliert werden soll, allen Musikern bekannt zu machen. So bedeuten zwei Finger zum Boden ausgestreckt Bb -Dur (Vorzeichen der Tonart mit zwei b)und drei Finger nach oben gehalten A-Dur (Vorzeichen der Tonart mit drei Kreuz).
Analoge auf Wiederholung ausgerichtete Anweisungen finden sich in allen darstellenden Künsten. So wird ein Regisseur eines Theaterstücks eine Szene so oft wiederholen lassen, bis sie seinen Vorstellungen entspricht und ein Dirigent verlangt von seinen Musikern, entsprechende Erläuterungen vorausgeschickt, eine Notenpassage von Takt 24 bis Takt 48, wiederholt anzuspielen. Möglicherweise wird er seinen Wiederholungsauftrag der jeweiligen Situation angepasst formulieren und in Mimik, Gestik und Lautstärke unterstützen. Majestätisch überlegen: Bitte noch einmal von vorne! Herrisch bestimmend: Von vorne! Beleidigt wütend: Das spielen wir so lange von vorne, bis es auch der Letzte verstanden hat!
„Lass uns doch noch mal von vorne beginnen!" oder "Wir könnten doch noch einmal von vorne anfangen!“, in vor dem Scheitern stehenden Lebenspartnerschaften ausgesprochen, meist von dem vom Verlassen bedrohten Teil, soll ein DA CAPO einleiten, dessen Beginn jedoch nicht nach Takten bestimmt werden kann. Es fällt schwer, in einer Beziehung den Anfang zu definieren. Soll das erste Treffen, der erste Kuss, die erste Innigkeit, der Zeitpunkt der gemeinsamen Wohnung, die Eheschließung so es eine gegeben hat, der unbedingte Treueschwur den Takt angeben, ab welchem Zeitpunkt ein Wiederholungszeichen gesetzt werden soll? Szenen, der Theaterterminologie folgend, spielten die Beteiligten in ausreichender Zahl, allerdings werden die Mitspieler wenig Neigung verspüren, wenn sie schon einen Neuanfang ins Auge fassen, diese erneut aufzuführen. Es bleibt nicht viel, was sich wiederholen und sich im Verlauf der erinnerten Sequenz als Anfang oder Vorne ergründen ließe. Die glücklichen Momente sanken in die innere Vergessenheit, überschattet von irdischen, ober-flächlichen und tagesgeschäftigen Ereignissen. Sie wurden verdrängt und vergraben. Sich seiner frühen Gefühle zu erinnern, suggeriert Wiedererkennen in Vergangenem, kurzzeitig auflebend, mittelfristig nebulös und langfristig auf ewig entfernt. Alte Gefühle sind nur bedingt zum Wiederaufbau brauchbar, man kann sie wünschen, bereden, erinnerbar machen. Weißt du noch? Wir hatten so schöne Momente? Ein tolle Zeit, damals? Der irrationale Konjunktiv: Wenn ich noch einmal jung sein könnte, und wüsste, was ich heute weiß, dann würde ich alles ganz anders machen. Und die Liebe, die unbedingte Liebe? Sie benötigt kein DA CAPO. Aber wer weiß schon, ob er je eine Liebe hatte? Oder ob sie verloren ging? Entflogen wie ein Vogel, ausgegangen wie Milch oder Butter? Fangen wir wieder von vorne an. Aber das hatten wir ja schon.

Sonntag, 14. Februar 2010

Der Käfig

Das Fenster zum Käfig muss offen gestanden haben. Damals. Vor langer Zeit. Sie ist mir entflogen. So schnell, dass ich ihr noch nicht einmal hinterher schauen konnte.
Einst entwich mir ein Nymphensittich aus seinem Käfig durch das Fenster. Zweimal sogar. Beim ersten Mal flog er direkt in unsere Scheune, saß auf dem obersten Querbalken unter dem Dach. Ich kletterte zu ihm hinauf, währenddessen rief ich seinen Namen. „Lora, Lora.“ Es beruhigt ihn, den Nymphensittich. Ich muss ‚sie‘ sagen, es war ein Damenvogel. Immer, wenn sie in der Wohnung umherflog und ich seinen Namen rief, „Lora, Lora“, flog sie auf mich zu und setzte sich auf meine Schulter. Das erhoffte ich durch mein Rufen zu erreichen. „Lora, Lora.“ Beim ersten Mal gelang es. Beim zweiten Mal flog sie aus dem Fenster, nicht in die Scheune, in einen Kirschbaum hinter unserem Haus. Mein Rufen half nicht. „Lora, Lora.“ Die Wolkendecke behütete sie nicht, sie fand keine Grenze. Sie hätte eine Bedachung über sich spüren müssen. Sie hörte mich rufen, wie ich sie immer gerufen haben. „Lora, Lora.“ Sie hörte mich und antwortete. „ra, ra.“ In der Weite fand sie keine Orientierung.
So stand auch das Fenster zu meinem Käfig offen. Es muss so gewesen sein, anders kann ich es mir nicht erklären. Wie meine Lora flog sie gen Himmel, orientierungslos, schwach rufend, wo ich denn sei, zirpte sie ängstlich. Ich rief nicht, ich wusste, dass es keinen Sinn hatte. Wenn sie einmal die Tiefe des Himmelsraumes fühlen würde, die unendliche Weite, wenn sie einmal der Enge ihres Daseins entronnen sein würde, dann wusste ich, ein Wiedersehen ist ausgeschlossen. So entflog sie mir. Damals. Vor langer Zeit. So schnell, dass ich ihr noch nicht einmal hinterher schauen konnte, meine Liebe.

Sonnenuntergang

In einigen Wochen erscheint meine erste Erzählung mit dem Titel SONNENENUNTERGANG.
Ich bin sehr gespannt, wie das Buch aussieht und ob sich Leser dafür interessieren.

Hier ein kleiner Auszug.

Es wird still. Sie laufen über mir. Ihre Mäuler füllen züngelnde Klopse. Langsame Worte dringen aus Untiefen gurgelnd zu mir. Ein schwarzes Tuch schiebt die grelle Sonne beiseite und verdunkelt den Horizont. Nacht. Die Mitte teilt sich. Eine wunderschöne Frau tritt vor den Vorhang. Sie trägt lange blonde Haare. Ein schneeweißes Kleid bedeckt eine Schulter. Die Haut strahlt. Sie spricht zu mir, unhörbar. Ihre rechte Hand zeigt auf mich. Sie dreht die Handfläche nach oben und zieht mich, eine Marionette, mit stets beugendem und streckendem Zeigefinger zu sich. Ich schwebe durch sie hindurch. Licht. Ich sehe meinen Vater. Er trägt mich und singt ein Kinderlied. In den lieblichen Gesang stürzt mein schreiender Klassenlehrer: „Du Bankert! Streck die Hand aus!“ Er schlägt ohne Unterlass mit einem menschengroßen Holzlineal auf meine verstümmelten Finger. Ein breiter Eichenblattfluss überblendet die Geschehnisse. Lene und ich liegen am Ufer im hohen Gras. Wir küssen uns. Plötzlich springt sie auf und stürzt weinend ins Wasser. Die Stille tobt, Wellen überschlagen sich, die Oberfläche färbt sich blutrot. Wo sie verloren ging, schießt sie, thronend auf einer schwarzen Lokomotive, dessen Front eine weit geöffnete Drachenfratze ziert, empor. An den blutverschmierten Zähnen halten sich meine Kameraden fest. Sie rufen: „Warum? Warum?“ Schallend lacht sie und winkt mit dem Siegerkranz in der Hand. Der Zug fährt über mich hinweg und versinkt in einem plötzlich aufreißenden breiten Schützengraben. Könige, Adler, meine Schule, schwarz-weiß-rot, meine Lehrer am Katheder, werden vom Sog in die Tiefe gerissen. Nichts. Stille. Grelles Licht. Dunkel. Dunkel.

(Die Verwundung im ersten Weltkrieg, den er wie seine Kontrahenten auf französischer Seite nicht verstanden haben, die ihm angeborene Verbundenheit zur Natur, insbesondere zur Erde, zum Boden – der Soldat frisst sie, vergräbt sich in ihr, der Landwirt hegt aus Liebe - und seine dem Schicksal geschuldete Dankbarkeit, führten Peter zu bescheidener Zufriedenheit – will nur ein Dach über dem Kopf, ein Bett zum Schlafen, keinen Hunger und Frieden – und naturnaher glücklicher Lebensweise.
Anlässlich der politischen Niederschlagung der Demokratisierung in Prag fühlte ich in wenigen Worten seine weltabgewandte Philosophie.)

Beide lauschten wir den Meldungen der Niederschlagung des Prager Frühlings. Währenddessen zündete er sich seine Pfeife an, zog daran und blies eine weißgraue Wolke genüsslich aus. Währenddessen überzog den angrenzenden Wald ein rot glühendes, in seiner Schönheit kaum zu überbietendes Abendrot und bedeckte den weiten Horizont. Ruhig, bedächtig, unbeteiligt und in sich ruhend wandte er sich zur mir: „Schau dir den Sonnenuntergang an. Wenn die Welt untergeht, kommst du zu mir, wir setzen uns ans Fenster und schauen zu.

(In der Erinnerung an ihn erkenne ich, wie sehr uns kindliche Erlebnisse prägen und, wenn wir eine Rückbesinnung erkennend zulassen, wie sehr diese frühe Heimat, Heimat überhaupt, unsere Seele befriedet.)